321-2021: Eine Zeitreise durch 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland
Mit dem Online-Vortrag von Dr. Uri Kaufmann am 03.03.2021 unter dem Titel: „321-2021: Eine Zeitreise durch 1700 Jahre. Zur jüdischen Geschichte auf dem Gebiet des heutigen Deutschland“ setzten der Jülicher und Opladener Geschichtsverein in Kooperation mit der Volkshochschule Leverkusen ihre gemeinsame Veranstaltungsreihe „Marksteine deutscher Geschichte aus rheinischer Perspektive“ im Jahr 2021 fort. Der Referent ist seit 2011 Leiter der Alten Synagoge – Haus jüdischer Kultur – in Essen. Der Vortrag wurde live auf den Online-Plattformen Zoom und Facebook übertragen.
Der renommierte Schweizer Historiker und Autor begab sich auf eine spannende und fruchtbringende Tour d’Horizon zum genannten Thema. Es gelang ihm sehr gut, vom 1700 Jahre währenden jüdischen Leben in Deutschland einen Bezug zur Region Rheinland herzustellen. Kaufmann begann seine Zeitreise mit dem an den Kölner Stadtrat ergangenen Dekret Kaiser Konstantins aus dem Jahr 321. Dieses gestattete den Juden, öffentliche Ämter zu bekleiden, und gilt heute als frühester Beleg für die Existenz einer jüdischen Gemeinde im Gebiet des heutigen Deutschlands.
Für die anschließenden 500 Jahre gebe es zwar vereinzelte Funde, wie ein bei Basel gefundener Ring und eine bei Burgaltendorf (Essen) gefundene Bronzescherbe, die auf jüdisches Leben hindeuten können. Handfeste Belege seien diese laut Kaufmann aber nicht, im Gegenteil: Vermutlich handelte es sich um Handelswaren der Germanen. Vom 8. bis 11. Jahrhundert gibt es Nachweise von jüdischen Fernhändlern, den Radhaniten. Sie belebten durch ihre Handelsbeziehungen die Verbindung der Länder des christlichen Abendlandes mit denen der islamischen Welt. Quellen geben im 10. Jahrhundert Zeugnis von Talmudrezeptionen auch in Spanien und Deutschland. Juden siedelten von Norditalien (Lucca) nach Speyer, Worms, Mainz und ins Rheinland. In den rheinhessischen Territorien gab es 1096 erste Kreuzzüge (Pogrome) gegen die dort ansässigen Juden. Die Vertreibung der Juden im Heiligen Römischen Reich und das Thema jüdisches Leben im Osten Europas wurden im weiteren Verlauf des Vortrags eindrucksvoll dargelegt. Kaufmann betonte, dass sich in der Zeit zwischen dem 16. und dem 18. Jahrhundert auch jüdisches Leben auf dem Land im Rheinland und in Westfalen herausbildete und Juden oft die Rolle der Mittler zwischen Stadt und Land einnahmen. Dass sich Juden in Nischen wie dem Vieh- und Weinhandel betätigten, zeigt sich etwa anhand der Viehhändlersprache, die einen hohen Anteil von jiddischen Ausdrücken aufweist.
Der Vortragende beschrieb in der Folge innerjüdische Strömungen und ging auf die Einweihung der heute noch bestehenden Portugiesischen Synagoge in Amsterdam (1675), die Gleichberechtigung der Juden zur Napoleonischen Zeit sowie auf die Einflüsse des Dessauer Philosophen der Aufklärung Moses Mendelssohn und des Begründers der „Wissenschaft des Judentums“ Leopold Zunz näher ein. Moderne, konservative und liberale Strömungen innerhalb des Judentums spalteten jüdische Gemeinden in der sich anschließenden Epoche. Der 1889 in Bonn gestorbene Rabbiner Ludwig Philippson bezeugt, dass prominente Vertreter jüdischen Lebens im Rheinland bzw. im Gebiet des heutigen Nordrhein-Westfalens gewirkt haben. So begründeten Hermann und Leonhard Tietz den Erfolg der modernen Warenhäuser – „Hertie“ etwa ist nichts anderes als die Abkürzung des Namens von Hermann Tietz. Ein weiteres Beispiel ist die Kölner Bankiersfamilie Oppenheim, deren Angehörige sich auch als Mäzene betätigte. So finanzierte Abraham Oppenheim die 1861 eingeweihte Synagoge in der Glockengasse aus seiner eigenen Schatulle.
In ersten Jahren nach der Reichsgründung unter Bismarck ab 1871 ist ein gewisses Maß an Gleichberechtigung auszumachen, was sich auch an weiteren Synagogenbauten ablesen lässt. In diesem Zusammenhang verwies Kaufmann auch auf den Bau der Synagoge in Opladen im Jahr 1879. Besonders prachtvoll war die 1900 eingeweihte Synagoge in Dortmund mit 1.270 Plätzen. Auch wenn der Antisemitismus vor dem Ersten Weltkrieg zunahm, zogen auch die Juden mit patriotischen Gefühlen für Deutschland und den Kaiser in diesen Krieg. Auch die Weimarer Zeit wurde von der jüdischen Bevölkerungsgruppe mitgeprägt, so z. B. durch jüdische Schulen und im Kultur- und öffentlichen Leben. Die Judenverfolgung im Nationalsozialismus klammerte der Dozent bewusst aus, da er die Geschichte jüdischen Lebens in Deutschland nicht auf die Schoah reduzieren wolle.
Nur langsam entwickelte sich wieder nach 1945 jüdisches Leben im Rheinland, insbesondere durch Migration aus Osteuropa. Der Pogrom von Kielce 1946 war ursächlich für die Migration von polnischen Juden nach Westdeutschland. Im Jahr 1956 wurde die neue Synagoge in Dortmund eingeweiht, drei Jahres später wurde die Kölner Synagoge in der Roonstraße nach dem Wiederaufbau eröffnet. Uri Kaufmann beendete seinen Vortrag mit dem Fazit, dass jüdisches Leben wieder einen Platz in unserer Gesellschaft gefunden hat, und stand in der anschließenden Fragerunde Rede und Antwort.