Europäisches historisches Erinnern. Erwartungen der Politik an Geschichtsarbeit in Europa (aus lokaler, regionaler, nationaler, europäischer Perspektive)
Im Rahmen des Workshops „Aufbruch, Neugestaltung und Kontinuitäten – Europäische Stadtentwicklung in der Zwischenkriegszeit (1918-1939)“, den der OGV mit seinen Kooperationspartnern kurz vor dem erneuten Lockdown unter Einhaltung von Abstandsregeln in Bensberg erfolgreich durchführen konnte, fand zum Auftakt eine Diskussion unter dem Titel „Europäisches historisches Erinnern“ statt. Zunächst umriss Guido von Büren in seiner Einführung die Herausforderungen, die sich einem internationalen Projekt wie „Stadträume/Urban Spaces“ stellen; nämlich zum einen die Verknüpfung von lokaler, regionaler und europäischer Ebene, sowie zum anderen die Tatsache, dass von Seiten der Wissenschaft, den interessierten Laien, aber auch von Seiten der Politik und den Projektförderern verschiedene Erwartungen an das Projekt, aber auch an die Geschichtsarbeit im Allgemeinen gestellt werden. Über die Frage, welchen Stellenwert Geschichtsarbeit und Geschichtsbewusstsein heute haben, welche Veränderungen und neue Entwicklungen es gibt und wie die Politik damit umgeht, diskutierten im Anschluss Sabine Verheyen, Bernhard Marewski, sowie zahlreiche Beitragende aus dem Plenum und via Zoom.
Bernhard Marewski ist seit 1989 Ratsmitglied der Stadt Leverkusen und amtiert seit 2015 als Erster Bürgermeister. Neben seiner kommunalpolitischen Tätigkeit engagiert er sich seit Jahrzehnten für den Austausch mit der Leverkusener Partnerstadt Oulu (Finnland). In seinem Eingangs-Statement betonte Marewski die Notwendigkeit, sich mit Geschichte zu beschäftigen, da wir nur so unsere Gegenwart verstehen können und Zukunftsperspektiven entwickeln können. Dabei diene die Beschäftigung mit Geschichte auch dazu, Mahnungen abzuleiten, um aus den Erfahrungen der Geschichte zu lernen. Des Weiteren sprach Marewski von einer gesellschaftlichen Verpflichtung, sein historisches Erbe zu kennen und zu pflegen. Jedes Volk besitze sein historisches Erbe, das bewahrt werden müsse. Gerade der Austausch und die gegenseitige Kenntnis der Geschichte des jeweils Anderen – über Ländergrenzen hinweg – spiele eine zentrale Rolle bei Konflikten: ohne historische Kenntnisse seien Konflikte nicht verstehbar und schon gar nicht lösbar. Unter dem Schlagwort „Kulturpolitik ist Stadtpolitik“ warb Marewski für ein stärkeres politisches Engagement für die Geschichtsarbeit, die er im Bereich der Kultur als unverzichtbaren Teil der menschlichen Bildung verortet. Um die Geschichte einer Stadt anschaulich zu präsentieren und das Geschichtsbewusstsein einer Stadtgesellschaft zu stärken, bedürfe es einer ressortübergreifenden Strategie und eines breiten Konsenses in der Politik. Marewski appellierte hier an die Bereitschaft aller Ratsmitglieder zu einer interfraktionellen Zusammenarbeit. Nur diese kann sicherstellen, dass entsprechende Ideen auch von der Stadtverwaltung umgesetzt werden, die leider zu oft quasi autonom am Stadtrat und an den Bürgern vorbei agiere. Einer Debatte, ob angesichts der durch Corona ausgelösten Krise Kulturarbeit ein freiwilliger Luxus sei, auf den man wegen drohender Sparzwänge verzichten könne, erteilte Marewski eine klare Absage: Kulturarbeit gehöre zur Basis und zum Kitt einer funktionierenden Gesellschaft.
Sabine Verheyen (via Zoom zugeschaltet) gehört seit 2009 dem EU-Parlament an und ist dort seit 2019 Vorsitzende des Ausschusses für Kultur und Bildung. Zudem besitzt sie als langjähriges Ratsmitglied und ehemalige Bürgermeisterin der Stadt Aachen sowie als kommunalpolitische Sprecherin im EU-Parlament eine große Expertise in kommunalpolitischen Themen. Verheyen betonte zunächst die enorme Bedeutung der Kulturarbeit, unter der sie ähnlich wie Marewski auch die Geschichtsarbeit subsumiert: Sie sei elementar für das Zusammenwachsen und den Fortbestand der EU. Es sei wichtig und richtig, bei aller Unterschiedlichkeit der einzelnen Nationen aufeinander zuzugehen, die Geschichte der Länder miteinander zu vergleichen und die unterschiedlichen Perspektiven auf historische Ereignisse in den verschiedenen Ländern wahrzunehmen. Daher gehe es weniger darum, ein gemeinsames Verständnis der europäischen Geschichte zu erhalten, sondern die Unterschiede zu erklären, um sie besser verstehen zu können und voneinander zu lernen. Verheyen führte aus, dass die unterschiedlichen Geschichts-Narrative in den einzelnen Ländern auch mit völlig verschiedenen Schwerpunktsetzungen im Geschichtsunterricht in den verschiedenen Ländern einhergehen. Daher erwartet sie, dass diese Narrative bzw. Erinnerungskulturen weiterhin national geprägt sein werden. Umso wichtiger sei es, über diese Unterschiede ins Gespräch zu kommen und die Vielfalt erlebbar zu machen. Das Motto der EU „in Vielfalt geeint“, lässt sich somit auch auf die Geschichtsarbeit übertragen. Wie wirkmächtig die Unterschiede in den Erinnerungskulturen der europäischen Nationen sein können, erläuterte Verheyen am Beispiel des Hauses der europäischen Geschichte in Brüssel. Sowohl bei der generellen Konzeption des Museums als auch bei der Gewichtung einzelner Ereignisse oder Prozesse gab es große Kontroversen zwischen Vertretern einzelner EU-Länder. Laut Verheyen kann eine Überwindung dieser Kontroversen nicht darin bestehen, ein vereinheitlichendes europäisches Narrativ zu konstruieren, da ein solcher gemeinsamer Nenner im EU-Parlament von vornherein nicht konsensfähig wäre. Verheyen sieht die Lösung eher in Projekten, die die Partnerschaft, den Dialog zwischen verschiedenen Ländern fördern und an denen sich viele internationale Partner beteiligen können. Dem OGV gebühre das Lob, mit „StadtRäume/ UrbanSpaces“ ein Projekt mit haargenau dieser Intention konzipiert zu haben.
Prof. Dr. Wolfgang Hasberg (Universität zu Köln) eröffnete anschließend die Diskussion, indem er zwei Begriffe aus den Eingangs-Statements von Bernhard Marewski und Sabine Verheyen herausgriff, deren Verwendung er in der Geschichtswissenschaft für problematisch hält: Zunächst problematisierte Hasberg den Begriff „(kulturelles) Erbe“, der sich zwar in EU-Kontexten großer Beliebtheit erfreut (vgl. EU Heritage und ähnliche Projekte), aber gleichzeitig in Deutschland eine Konnotation besitzt, die das schwierige, belastete Erbe der deutschen Geschichte in Bezug auf die beiden Weltkriege in den Vordergrund stellt. Neben dieser problematischen Konnotation merkte Hasberg auch an, dass man sein Erbe im rechtlichen Sinne ja auch einfach ausschlagen könne und sich nicht weiter damit auseinandersetzen müsse – im Gegensatz zur Verantwortung im Umgang mit der Geschichte. Aus diesen Gründen hält Hasberg den Erbe-Begriff in Bezug auf historische Fragestellungen für unangemessen. Zweitens wies er darauf hin, dass der vielzitierte Anspruch vom „Lernen aus der Geschichte“ in dem Sinne, dass man aus historischer Erfahrung Handelsmaximen für die Zukunft ableiten könne, in der geschichtswissenschaftlichen Forschung kritisch gesehen wird, weil sich die Voraussetzungen und Kontexte zwischen verschiedenen Zeiträumen stark voneinander unterscheiden. Hasberg formulierte stattdessen das Ziel des Lernens „in“ der Geschichte. Wesentlich hierfür sei nicht die Bewertung des Handelns der Zeitgenossen, sondern vor allem der Blick auf die Art und Weise, wie mit Geschichte umgegangen wird, welche Deutungen von Geschichte es gibt und wie sich diese verändern und modifiziert werden.
Prof. Dr. Wolfgang Schmale (Universität Wien) ging auf das von Verheyen erwähnte Motto der EU „Einheit in der Vielfalt“ näher ein und bemerkte dazu, dass uns die historische Erfahrung der Kriege des 20. Jahrhunderts geradezu dazu „trainiert“ habe, die europäische Einheit zu suchen und zu betonen. Beim Blick auf die Erinnerungskulturen in Europa überwiege jedoch die Vielfalt und es seien gravierende Unterschiede offensichtlich. Daher müsse bei historischen Untersuchungen aus vergleichender Perspektive darauf geachtet werden, dass nicht eine Einheit gesucht wird, wo es sie nicht gegeben hat.
Sabine Verheyen nahm Stellung zum Wortbeitrag von Prof. Hasberg und plädierte dafür, an dem Begriff bzw. dem Ziel des „Lernens“ (sei es „aus“ oder „in“ der Geschichte) festzuhalten. Durch die Auseinandersetzung mit Geschichte gewinne man Kenntnisse über das, was einen geprägt hat und wie wir denken. Ebenso gewinne man Kenntnisse über andere Perspektiven auf die Geschichte. Der Erwerb solcher Kenntnisse sei nun mal ein Lernprozess, auch wenn dies nicht bedeutet, dass dieses Lernen auf konkrete Handlungen in der Zukunft bezogen sein muss. Auch vor dem Hintergrund der Bildungsarbeit der EU, die unter dem Schlagwort des „Lebenslangen Lernens“ weit über die Schulen hinausgehe, sei der Begriff des Lernens durch Geschichte unverzichtbar.
Auch Bernhard Marewski kommentierte die von Prof. Hasberg geäußerten Gedanken. Für ihn sei die von Hasberg geäußerte Kritik aus wissenschaftlicher Perspektive sicher richtig, jedoch müsse man eine Ebene tiefer ansetzen, wenn es darum geht, die Öffentlichkeit bzw. möglichst viele Leute für Geschichte und Geschichtsbewusstsein zu sensibilisieren. Es müsse zunächst um das Heranführen an Geschichte und die Vermittlung und Präsentation von Geschichtsarbeit in der Öffentlichkeit gehen, und das sei bei der Konkurrenz an verschiedenen Freizeitangeboten eine schwere Aufgabe. Somit stellen sich Fragen, ob „historisches Erbe“ oder „Lernen aus der Geschichte“ angemessene Begriffe seien, erst einmal nicht oder frühestens in einem zweiten Schritt. Wichtiger sei zunächst, dass möglichst Viele überhaupt erst anfangen, sich mit Geschichte zu beschäftigen.
Erwin Fischer (Partnerverein Leverkusen-Oulu) griff die angesprochene Diskrepanz zwischen europäischer Einheit und Vielfalt auf und merkte dazu an, dass beim Blick auf die Narrative der europäischen Geschichte gerade zu der Zwischenkriegszeit die Betonung des Gegeneinanders und der Kriege dominierten. Dem gegenüber stehe aber die laut Fischer vernachlässigte Geschichte des Miteinanders und der Kooperation mit den „Anderen“, die auch in der Zwischenkriegszeit etwa in Böhmen und Mähren, aber auch anderswo vielmehr die Regel als die Ausnahme war. Fischer möchte diesen Aspekt im Projekt „StaR/UrbS“ stärker berücksichtigen.
Georg Mölich (LVR-Institut für Landeskunde und Regionalgeschichte) wendete sich direkt an Sabine Verheyen und griff ihre Idee von einem Austausch von Schulbüchern in verschiedenen europäischen Ländern auf. Nicht nur hier, sondern generell bei allen Geschichtspublikationen, stelle sich dabei das ganz erhebliche Problem der Sprachbarriere. Diese Barriere bestehe laut Mölich nicht zuletzt deshalb, weil Gelder für die Übersetzung historiographischer Werke fehlen. Dabei wäre es originäre Aufgabe der EU, neben Förderungen für Publikationen auch die mitunter sehr aufwändigen Übersetzungen zu finanzieren. Das von Verheyen geäußerte Ziel einer Erlebbarmachung von europäischer Vielfalt in Bezug auf Erinnerungskulturen könne, so Mölich, unmöglich erreicht werden, wenn Übersetzungen fehlen. Verheyen entgegnete, dass sie gerne auch Übersetzungen fördern würde, wenn die finanziellen Mittel der EU für die Kulturarbeit ausreichend wären. Dies sei jedoch nicht der Fall, nicht zuletzt deshalb, weil Bildung als vornehmlich nationale Aufgabe angesehen werde. Verheyen hofft auf Fortschritte im Bereich der Digitalisierung und nennt digitale Übersetzungs-Tools als Möglichkeit, mittelfristig die Sprachbarrieren zu überwinden.
Die Diskussion endete mit dem Wortbeitrag von Prof. Dr. Ralf-Peter Fuchs (Universität Duisburg-Essen), der sich zunächst skeptisch zu der von Sabine Verheyen genannten Perspektive, die Übersetzungsproblematik durch technische Lösungen überwinden zu können, äußerte. Bezüglich der Problematik der divergierenden Erinnerungskulturen auf europäischer und nationaler Ebene schlug Fuchs vor, die regionale und lokale Perspektive stärker in den Blick zu nehmen, die meistens alles andere als national geprägt war. So sei es lohnenswert, Grenzregionen und grenzübergreifende Zusammenarbeit (zum Beispiel am Niederrhein zwischen Deutschen und Niederländern) stärker in das öffentliche Bewusstsein hineinzutragen. Auf der Mikro-Ebene bestünden laut Fuchs gute Chancen, durch den internationalen Vergleich verschiedener Städte zu überraschenden Erkenntnissen zu kommen, sodass das Projekt „StaR-UrbS“ hier einen geschickten Ansatz gewählt habe. Die Fokussierung auf die lokal- und regionalhistorische Ebene könne zudem helfen, den Problemen, die sich aus der Betrachtung von oftmals heiklen nationalen Narrativen ergeben, aus dem Weg zu gehen.
Insgesamt lieferte die Diskussion zahlreiche Impulse und Anregungen, die an den beiden folgenden Workshop-Tagen in die einzelnen Sektionen eingeflossen sind. Insofern bereicherte sie das vom OGV und seinen Partnern ins Leben gerufene Projekt „Stadträume/Urban Spaces“ in seiner Anfangsphase. Aber auch in einer anderen Hinsicht war die Veranstaltung als Erfolg zu werten: Denn erstmals wurde die hybride Form, d. h. mit abwechselnden Wortbeiträgen von vor Ort Anwesenden und TeilnehmerInnen über das Internet, in der Praxis erprobt. Der OGV freut sich darauf, auch im Jahr 2021 viele Veranstaltungen wie z. B. Vorträge auf diese Weise durchzuführen. Mit der Anschaffung eines eigenen Zoom-Accounts hat der OGV die Voraussetzung geschaffen, auch eine Online-Teilnahme an bestimmten Veranstaltungen zu ermöglichen – was man auch als einen positiven Nebeneffekt der Corona-Pandemie werten kann.