Historischer Beitrag: Ein Schlebuscher Arzt half Edith Stein bei ihrer Flucht vor den Nazis

Leverkusen zählt zwar nicht zu den Orten, die in einer Biographie über Edith Stein als Stätten des ständigen Aufenthaltes zu erwähnen sind. Aber dennoch führt an einem markanten Punkt ihres Lebens in ihrer Zeit in Köln eine Spur in die benachbarte, damals noch junge Stadt Leverkusen. Lesen Sie mehr hierzu ...

Bei dem folgenden Text handelt es sich um einen Auszug aus dem Aufsatz Gegen die Geschichtsvergessenheit. Mit der Stadt Leverkusen verbundene christliche Gewaltopfer der NS-Zeit dem Vergessen entreißen, den Prälat Prof. Dr. Helmut Moll für den OGV-Kurier 95/2020 (erscheint im Mai 2020) verfasst hat. Der Autor ist römisch-katholischer Priester, Historiker, Beauftragter des Erzbistum Köln für Selig- und Heiligsprechungen sowie Herausgeber des Deutschen Martyrologiums des 20. Jahrhunderts, dessen siebte Auflage 2019 erschienen ist.

Ohne Zweifel zählt Edith Stein, die seit dem Jahr 1933 im Kloster der Karmelitinnen in Köln lebte, zu den bekanntesten Märtyrerinnen des 20. Jahrhunderts. Von Papst Johannes Paul II. am 1. Mai 1987 in Köln selig, am 11. Oktober 1998 im Vatikan heiliggesprochen und im Jahr 1999 zur Mitpatronin Europas erklärt, hat sie unzählige Menschen inspiriert. Die Literatur, die sich mit dem Leben und den Werken der Philosophin beschäftigt, ist unübersehbar geworden.

Leverkusen zählt zwar nicht zu den Orten, die in einer Biographie über Edith Stein als Stätten des ständigen Aufenthaltes zu erwähnen sind. Aber dennoch führt an einem markanten Punkt ihres Lebens in ihrer Zeit in Köln eine Spur in die benachbarte, damals noch junge Stadt Leverkusen.

Edith Stein wurde 1891 in Breslau geboren. Nach ihrem Studium in Breslau und Freiburg war sie als Lehrerin in Speyer und Münster tätig, bevor sie am 14. Oktober 1933 in das Kloster der Karmelitinnen zu Köln eintrat. Hier erhielt sie ihren Ordensnamen Teresia Benedicta a Cruce in Erinnerung an die Hl. Teresa von Avila, deren Schriften einen so großen Einfluss auf ihre Hinwendung zum Christentum ausgeübt hatten.

Edith Stein – Schwester Teresia Benedicta a Cruce – hatte sich nicht vorstellen können, dass sie noch einmal gezwungen sein würde, ihren Wohnort zu wechseln. Doch die politische Lage zwang sie dazu. Am 9. November 1938, dem Abend der Reichspogromnacht, brannten die Synagogen – auch in Köln. Juden wurden öffentlich ohne Einschränkung verfolgt und ausgegrenzt. Schwester Teresia Benedicta a Cruce befürchtete, dass sie mit ihren Wurzeln in der jüdischen Tradition zu einer Gefahr für das Leben ihrer Schwestern werden könnte. Das wollte sie nicht zulassen. In Absprache mit den Oberen entschied sie sich für die Übersiedlung in einen Konvent in die scheinbar ruhigen und damit sicheren Niederlande. Der Konvent in Echt stimmte nach Kontaktaufnahme am 8. Dezember 1938 umgehend zu.

Edith Stein wollte nicht illegal in die Niederlande reisen. Sie beantragte alle von deutscher Seite nötigen Ausweispapiere. Am Morgen des Silvestertages 1938 trafen die Pässe ein, schon am Nachmittag erfolgte die Abreise. Allerdings – wer sollte den Wagen fahren? An dieser Stelle öffnet sich die angekündigte Spur nach Leverkusen. Dr. Paul Strerath führte zu dieser Zeit eine Arztpraxis in seinem Geburtsort Schlebusch, das 1930 Teil der neugegründeten Stadt Leverkusen geworden war. Mit dem Karmel in Köln verband ihn nicht seine medizinische Kompetenz, sondern seine Wertschätzung der karmelitischen Spiritualität. Er galt als geschätzter Freund des Kölner Konventes und besaß ein Auto – zu dieser Zeit keine Selbstverständlichkeit. Auf ihn fiel die Wahl bei der Suche nach einem Chauffeur für die Übersiedlung von Schwester Teresia Benedicta.

Dr. Strerath (1880-1945) traf zwei kluge Vorsichtsmaßnahmen. Zunächst bat er seinen priesterlichen Freund Dr. Leo Sudbrack († 1969), ihn zu begleiten. Bei der befürchteten Grenzkontrolle würde bei zwei Begleitern kein Argwohn gegenüber der im Fond sitzenden Ordensschwester entstehen. Darüber hinaus hinterlegte Dr. Strerath ein kostbares Bild im Kofferraum des Wagens. Das Bild sollte man bei einer etwaigen Kontrolle finden, dadurch einen Grund für die Reise signalisieren und wiederum das Interesse von der Ordensschwester im Wagen ablenken.

Die Ordensfrau nahm viele ihrer Manuskripte und Bücher mit auf ihrem Weg nach Echt. Der Wagen setzte sich vom Klostergebäude an der Dürener Straße in Richtung der Niederlande in Bewegung. Schwester Benedicta bat darum, einen ersten Halt am ehemaligen Klostergebäude der Kölner Karmelitinnen in der Schnurgasse zu machen. Dort wollte sie das Gnadenbild der Friedenskönigin verehren und ein Gebet an der alten Gruft im Schwesternchor verrichten. Am 3. Januar 1939 hielt sie in einem Brief fest: Ein treuer Freund unseres Hauses [d. h. des Kölner Karmels] hat mich am Sylvesterabend hergebracht. […] Ich durfte auch mit dem Auto, das mich herbrachte, erst noch nach der Schnurgasse fahren und den Segen der Friedenskönigin für die Fahrt holen.

Alle Sorge erwies sich als unbegründet. Der Wagen passierte ohne Komplikationen die Grenze. Zwischen 19 und 20 Uhr trafen die Reisenden in Echt ein und wurden von den Schwestern herzlich aufgenommen. Das machte Schwester Teresa Benedicta den Abschied aus Deutschland leichter. Dr. Strerath und Dr. Sudbrack hatten ihre Aufgabe erfüllt und kehrten nach Leverkusen zurück. Die Schwesterngemeinschaft in Echt war freudig überrascht, in ihrem neuen Mitglied eine so unkomplizierte, allem Neuen problemlos sich einfügende Mitschwester zu finden. Gesundheitlich fühlte sich Edith Stein sogar wohler als in Köln.

Im Juli 1939 folgte Rosa Stein ihrer Schwester nach Echt. Sie übernahm Aufgaben an der Pforte des Klosters und stand der Schwesterngemeinschaft mit alltäglichen Diensten zur Verfügung. Den Geschwistern Stein aber verblieben nur einige Monate, bis der Terror der SS gegen die jüdische Bevölkerung mit kalter Faust auch in dem scheinbar sicheren Umfeld nach ihnen griff. Die katholischen Bischöfe der Niederlande verfassten am 20. Juli 1942 einen Hirtenbrief, der am Sonntag, den 26. Juli 1942, in allen Kirchen verlesen wurde. Die Bischöfe setzten die Gläubigen davon in Kenntnis, dass sie mit den anderen christlichen Kirchen formell in einem Telegramm an den nationalsozialistischen Reichskommissar Dr. Artur Seyß-Inquart (1892-1946) gegen die willkürliche Deportation der jüdischen Mitbürger aus den Niederlanden protestiert hatten.

Die hasserfüllte Antwort der Nationalsozialisten ließ nicht lange auf sich warten. Schon am nächsten Tag, am Montag, den 27. April 1942, erging nach einer Sondersitzung durch den Reichskommissar der Befehl zur Ermordung der katholisch gewordenen Juden in den Niederlanden. In einer groß angelegten Razzia nahm die SS Männer, Frauen und Kinder, Ordensleute und Laien fest. Durch das perfekte Meldesystem wussten die Verantwortlichen um die Aufenthaltsorte. Der Zugriff verlief unerbittlich. Die Opfer hatten binnen Minuten ihre Wohnungen bzw. Klöster zu verlassen und den SS-Schergen zu folgen. Sie wurden auf Lastwagen verladen, in das Durchgangslager Westerbork verfrachtet und von dort aus nach Auschwitz gebracht. Erschütternde Abschiedsszenen spielten sich ab. Die Geschwister Stein gelangten am 9. August 1942 nach Auschwitz. Sie wurden mit den anderen Gefangenen in die Gaskammern geführt und ermordet.

(Abbildungen: Privatarchiv Prälat Prof. Dr. Helmut Moll)