Rezension / Büchertipp: Kampf um Polen
Wolfgang Templin: Der Kampf um Polen. Die abenteuerliche Geschichte der Zweiten Polnischen Republik 1918-1939, Paderborn 2018.
256 S., ISBN 978-3-506-78757-6, 39,90 €.
Ein Buch, das der Rubrik „Historisches Sachbuch“ zuzuordnen ist, liegt auf dem Tisch. Verfasst von einem Bürgerrechtler, der seit der Mitte der 1980er Jahre in verschiedenen Funktionen am Protest gegen das DDR-Regime mitwirkte und 1989/90 Mitglied und Sprecher des Runden Tisches war, an dem sich in diesen Jahren Vertreter der oppositionellen Gruppierungen versammelten, die konstruktiven Einfluss auf die Regierung der noch existenten DDR zu nehmen versuchten. Vorbild war der Runde Tisch, der im Frühjahr 1989 in Polen entstanden und dort an der Überführung des sozialistischen in einen demokratischen Staat beteiligt war. Doch nicht vornehmlich diesem Umstand dürfte das Interesse W. Templins an Polen geschuldet sein. Vielmehr hat er dort, in Warschau, 1976/77 studiert und erste Kontakte mit der polnischen Opposition aufgenommen. Von 2010 bis 2013 war er dann Leiter des dortigen Büros der Heinrich-Böll-Stiftung.
Das erklärt, warum er sich nun dem Schicksal Polens zuwendet, das erst nach dem Ersten Weltkrieg wieder zu einem Nationalstaat geworden war. Nachdem es aufgrund der sogenannten Polnischen Teilungen am Ende des 18. Jahrhunderts seiner staatlichen Souveränität verlustig gegangen war, erhielt es erst über 100 Jahre später, nämlich in Folge des Versailler Vertragswerkes, seine Eigenständigkeit zurück. Dem war ein langer Unabhängigkeitskampf mit zahlreichen Aufständen vorausgegangen. Davon erzählt das Buch – in seiner ersten Hälfte.
Ihren Ausgang nimmt die enzyklopädisch anmutende und manchmal im latenten Stakkato daherkommende Schilderung des staatlichen Schicksals Polens bei einer Rede, die der erste Präsident der 1919 neu etablierten Republik Polen 1914 im Pariser Exil hielt, zu der sich mehr als 500 Zuhörer – zum größten Teil auch sie Exilanten – einfanden. Darin legte Józef Pilsudski (1867-1935) seine Vorstellungen eines neu zu gründenden Nationalstaats dar. Darin erwies der Führer der polnischen Sozialisten sich gegenüber den idealistischen Kommunisten, die ebenfalls im Exil weilten und deren heute bekannteste Vertreterin Rosa Luxemburg war, als realpolitischer Visionär, der in dem von ihm keineswegs herbeigesehnten Krieg die Chance erblickte, die nationale Souveränität Polens zurückzugewinnen. Auf welche glorreiche Vergangenheit sich diese gründen konnte, wird abrisshaft in Kapiteln beschrieben, die mit Titeln wie „Träume vergangener Größe“ oder „Generation der Unbeugsamen“ überschrieben sind. Insgesamt lesen sich die ersten Kapitel als eine positivistische Skizze der politischen Ereignis- oder eher Machtgeschichte mit einer klar pro-polnischen Attitüde, wie sie etwa in der messianischen Formulierung „Polen ersteht wieder auf“ zum Ausdruck kommt.
Mit Auferstehung ist die Errichtung des Nationalstaats 1918/19 gemeint, dem während der Kriegsjahre unterschiedliche staatliche Konstellationen vorausgegangen waren, bis die Mittelmächte 1916 ein Königreich errichteten, dessen Aufgabe nicht zuletzt darin bestand, eine Pufferzone gegen Russland zu bilden. Neu ausgehobene Truppen unter der Führung Pilsudskis hatten die polnischen Legionen zu einem militärischen Faktor werden lassen, den es zu nutzen galt. Dem Staatsrat gehörte zunächst auch Pilsudski an, bis er diesen 1917 verließ und daraufhin in deutsche Gefangenschaft genommen wurde. Der polnische Sozialistenführer ist zweifellos der Protagonist der ersten Hälfte des vorliegenden Bandes und wird als Realpolitiker beschreiben. Schließlich war er bis 1917 an der Übergangsregierung unter deutscher Kontrolle (Regentschaftsrat) beteiligt. Von Beginn an stand die polnische Republik unter einem dualistischen Gefüge, insofern sich gesellschaftlich die „Legionäre“, die Anhänger Pilsudskis, und die Nationaldemokraten gegenüberstanden. Nach dem Wahlsieg der Letztgenannten musste der Sozialistenführer sich in die Opposition begeben, aus der heraus er 1926 einen Putsch anführte, aus dem schließlich ein autokratisches System hervorging, das auch die Verfassung entsprechend anpasste und den Tod Pilsudskis (1935), der verschiedene Regierungsämter inne gehabt hatte, überstand.
Auch die wechselvolle Geschichte Polens, das im Zweiten Weltkrieg erneut zwischen die Fronten geriet, wird auf diese Weise dargestellt: als eine schier endlose Folge von Ereignissen, handelnder Personen und wechselnder Konjunkturen, die zumeist krisenhafte Züge annahmen. Außenpolitisch wiederholt sich das Szenario des 18. Jahrhunderts quasi im Zeitraffer, als nach den deutsch-polnischen und sowjetisch-polnischen Nichtangriffsverträgen von 1934 der Hitler-Stalin-Pakt 1939 den Weg frei machte, um Polen erneut zwischen dem Deutschen Reich und der Sowjetunion aufzuteilen.
Soweit die kurze Geschichte der Zweiten Polnischen Republik, über die man mancherlei Reflexionen anstellen könnte. Das allerdings unterbleibt im vorliegenden Buch, das die Ereignisgeschichte als eine schier unendliche Aneinanderreihung von Namen, Daten und scheinbar in der Vergangenheit real gegebener Zusammenhänge entfaltet und dabei den unbedarften Lesern nicht selten vor die unlösbare Aufgabe des permanenten Memorierens stellt. Zwischenfazits sind kaum zu finden, und das kritische Innehalten, um dargebotene Sachverhalte von unterschiedlichen Seiten zu beleuchten und kritisch zu hinterfragen, liegt offenkundig gänzlich außerhalb der Absichten des Autors.
Es ist ein Buch ohne jedes Moment von Diskursivität. Selbst den leisesten Hauch von Zweifel gegenüber der Darstellung von Ereignissen und von vermeintlichen Geschehenszusammenhängen sucht man vergeblich. Es ist die Rückkehr zur Meistererzählung traditioneller Prägung, in der sich der Autor als auktorialer Erzähler geriert und sich der dargestellten Erzählzusammenhänge derart sicher ist, als hätte er dem ihr zugrunde liegenden Geschehen selber beigewohnt oder es gar in eigener Autorität inszeniert. Zu Auseinandersetzungen mit der laut Bibliographie herangezogen Fachliteratur kommt es an keiner Stelle; allenfalls affirmativ wird im Text auf sie hingewiesen – geradewegs so, als erzählte die Geschichte sich selbst.
Die einzige Stelle, an der die streng chronologische Reihung unterbrochen wird, ist der Prolog, in dessen Mittelpunkt die bereits erwähnte Rede Pilsudskis 1914 in Paris steht. Sie hätte als eine Art Spiegelachse dienen können, anhand derer das Wirken Pilsudskis zum Wohle des polnischen Staates an entsprechender Stelle – anlässlich seines Todes etwa – hätte bewertet werden können. Doch so weit wollte der Autor seine rhetorischen Finten offenkundig nicht treiben, um sich nicht von der vermeintlich vorgegebenen chronologischen Linie ablenken zu lassen. So liegt ein Sachbuch auf dem Tisch, das eine Fülle an Informationen enthält, die ohne Zweifel das Geschehen, soweit es sich rekonstruieren lässt, angemessen wiedergeben. Was ihm allerdings fehlt sind die Spannungsbögen und die kritischen Reflexionen, die bei der Lektüre historischer Bücher die Würze sind, mit der die derbe Kost der Chronologie an Geschmack gewinnt.