Rückblick: Fakten und Mythen rund um den vor 75 Jahren gestarteten Marshall-Plan
Der Begriff „Marshall-Plan“ steht gemeinhin für ein erfolgreiches Kapitel der unmittelbaren Nachkriegszeit in Westdeutschland: Im Zusammenhang mit Wiederaufbau und dem anschließenden Wirtschaftswunder steht er für ein US-amerikanisches Hilfsprogramm, das noch heute als beispielhaft gilt, wo doch immer wieder von einem „Marshall-Plan für Afrika“, oder jüngst auch für einen ebensolchen für die Ukraine die Rede ist.
Aber wie genau funktionierte dieser Marshall-Plan und was für Auswirkungen hatte er konkret auf die Wirtschaft im Rheinland? Anlässlich des 75. Jahrestags war dieses Thema Inhalt eines gemeinsam mit der VHS Leverkusen veranstalteten Vortrags in der Reihe „Marksteine deutscher Geschichte aus rheinischer Perspektive“. Es referierte der Kölner Historiker und Archivar Dr. Ulrich S. Soénius, Direktor der Stiftung Rheinisch-Westfälisches Wirtschaftsarchiv zu Köln, der als Experte für Wirtschaftsgeschichte schon mehrmals sein Wissen mit dem OGV teilte.
Und wie so oft bei der Beschäftigung mit Geschichte, sind bei genauerer Betrachtung die Dinge komplizierter als gedacht: Das fängt im Falle des Marshall-Plans schon beim Begriff an – einen niedergeschriebenen „Plan“ als Anweisung oder Programm hat es nämlich nie gegeben. Der Marshall-Plan, offiziell „European Recovery Program“ fußte auf einer Rede des amerikanischen Außenministers George C. Marshall am 5.6.1947. Hintergrund war ein Paradigmenwechsel in der Besatzungspolitik der Amerikaner, die die negativen Auswirkungen der Demontagen allmählich erkannten und ihre Haltung änderten. Marshalls Idee war es, den Wiederaufbau mit Hilfeleistungen zu beschleunigen, und dachte dabei nicht nur an Deutschland, sondern an alle vom Zweiten Weltkrieg betroffene Staaten in Europa – mit Ausnahme der UdSSR und ihrer Vasallenstaaten. Im Gegensatz zu der Annahme von vielen Zeitgenossen war Deutschland nicht der Hauptnutznießer des Marshall-Plans – diesen Mythos widerlegte Soénius mit der Pro-Kopf-Berechnung der Hilfen, die für die Niederlande, Österreich und Frankreich wesentlich höher ausfielen.
Die ERP-Mittel bezogen sich zum einen auf die Lieferung von Rohstoffen, und zum anderen auf Investitionskredite, die in Westdeutschland durch die dafür gegründete Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) abgewickelt wurden. Dr. Soénius ging auf die Verteilung der Mittel im Rheinland ein und zeigte bzgl. der Kredite am Beispiel von Akten der Duisburger Kupferhütte, wie rheinische Unternehmen bürokratische Hürden überwinden mussten, damit das Geld letztlich ankam. Die Kredite durften nur zum Zwecke des Wiederaufbaus und der Modernisierung eingesetzt werden und waren für die Stabilität und das Wachstum der westdeutschen Wirtschaft von erheblicher Bedeutung, da sie laut Soénius in Bereichen mit geringer Selbstfinanzierungskraft gewirkt und eine kritische Manövriermasse der Investitionsplanung dargestellt hätten.
Noch größer war aber vielleicht die politische Bedeutung des Marshall-Plans, da mit ihm die Organiszation for European Economic Cooperation (OEEC) ins Leben gerufen wurde, der Vorläufer der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Die Amerikaner konnten mit dem Marshall-Plan die beteiligten europäischen Staaten stärker an sich binden und förderten sie im Sinne der Truman-Doktrin.
Die breite Zustimmung des Marshall-Plans in der westdeutschen Öffentlichkeit und die bis heute verbreitete positive Konnotation ist nicht zuletzt auf massive Marketingmaßnahmen der Amerikaner zurückzuführen: Dr. Soénius zeigte dazu Quellen von Schildern über Schriften bis hin zum „Marshall-Plan-Zug“, der Projekte im Zuge des Marshallplans in einer Wanderausstellung präsentierte. Dieser Zug machte übrigens am 31.10.1950 auch in Leverkusen-Küppersteg Station, wo an zwei Tagen 23.500 Menschen die Ausstellung besuchten.
Der Vortrag wurde live im Internet gestreamt und kann unter folgendem Link noch einmal angesehen werden: www.facebook.com/OGV.Lev/videos/474302068062469
Wer Lust bekommen hat, den Vortrag noch einmal „live“ anzusehen, kann dies am Mittwoch, den 16. November um 19:30 tun, wenn Dr. Soénius vor dem Jülicher Geschichtsverein im Vortragsraum der VHS Jülicher Land (Am Aachener Tor 16, Jülich) noch einmal referieren wird.