„StadtRäume – Weimar in der Region“: Vortragsreihe von OGV und JGV in Kooperation mit dem LVR startete virtuell
Am 17.3.2021 fand mit dem öffentlichen Online-Vortrag zum Thema „1923. Krisen- und Wendejahr der Weimarer Republik im Westen“ die erste Veranstaltung einer Reihe statt, die an insgesamt fünf Terminen bis Februar 2022 die Geschichte der Weimarer Republik im Rheinland in den Blick nimmt. Im ersten Vortrag dieser Reihe, die in Kooperation des LVR-Instituts für Landeskunde und Regionalgeschichte mit dem Jülicher Geschichtsverein und dem Opladener Geschichtsverein stattfand, referierten Prof. Dr. Wolfgang Hasberg, Michael D. Gutbier und Guido von Büren über zentrale Aspekte der sogenannten „Zwischenkriegszeit“ in den Städten Jülich und Leverkusen (dessen Gründung freilich erst 1930 stattfand, hier aber als Raum des heutigen Leverkusens gemeint ist). Zudem stellten sie das europäische Projekt „StadtRäume / UrbanSpaces“ vor, das sich dieser Zeit aus vergleichender lokaler Perspektive unter Beteiligung von verschiedenen Städten in sechs europäischen Ländern nähert.
Die Veranstaltung wurde moderiert von Dr. Helmut Rönz vom LVR, der zu Beginn in einer Einführung darauf hinwies, dass die Weimarer Republik nicht auf ihren Untergang durch die Nationalsozialisten reduziert werden solle, wie es in gängigen Narrativen der Fall sei. Ebenso sei die Frühphase der Weimarer Republik nicht ausschließlich von Krisen und Instabilität geprägt gewesen. Das vielzitierte „Krisenjahr 1923“ fiel dagegen in eine Zeit, in der ein kultureller Aufbruch in die Moderne stattfand, in der die Rolle der Frau neu definiert wurde, in der es Fortschrittsoptimismus und Errungenschaften in Kunst, Architektur und Wissenschaft gab. Für den Wirkungsraum der Stadt bzw. der kommunalen Politik im Rheinland, worauf sich das Projekt „StadtRäume“ besonders bezieht, nannte Rönz das Wirken Konrad Adenauers in Köln und die Kölner Messe, die neue Kölner Universität und die zwischen Köln und Bonn erbaute erste deutsche Autobahn als Beispiele für „Weimarer“ Errungenschaften.
An diese Beobachtungen knüpfte Prof. Dr. Wolfgang Hasberg von der Universität zu Köln an, der einen historischen Überblick zur Situation Deutschlands im „Krisenjahr“ 1923 gewährte. Er wies auf den semantischen Gehalt des Wortes „Krise“ hin, das etwas Eruptives, Plötzliches konnotiert. Im medizinischen Bereich sei die „Krise“ der Höhepunkt einer Krankheit, an dem die Heilung einsetzt oder die Wendung zum Schlechteren, was im Tod des Patienten endet. Bezogen auf die Frühphase der Weimarer Republik ist der Fokus auf die Krisenhaftigkeit der Epoche zuletzt mehr und mehr infrage gestellt worden. Ausgehend vom 1919 von Deutschland unterzeichneten Versailler Vertrag sprach der Historiker Jörn Leonhard vom „überforderten Frieden“; die Kulturwissenschaftlerin Gertrude Cepl-Kaufmann nannte ihr Buch über das Jahr 1919 „Zeit der Utopien“. Beim Blick auf die historischen Landkarten wurde jedoch schnell klar, warum die Frühphase der Weimarer Republik bis heute als besonders krisenhafte Zeit wahrgenommen wird, und zwar sowohl aus europäischer, nationaler und regional-rheinischer Perspektive. Hasberg verwies zunächst auf den europäischen Kontext mit dem Ende der Habsburgermonarchie und des russischen Zarenreiches, den Kämpfen in Polen und der Aufteilung Oberschlesiens, um dann auf die Verhältnisse im Rheinland näher einzugehen. Gerade für diese Region lässt sich die gängige Periodisierung der Jahre zwischen 1919 und 1923 als schwierige Anfangs- und Krisenzeit rechtfertigen, angesichts der Besatzung der Region einschließlich der Ruhrbesetzung und der wirtschaftlichen Probleme infolge von Reparationszahlungen und Inflation. Die politische Instabilität zeigte sich nicht nur am gescheiterten Hitler-Putsch von 1923, sondern auch an den Ermordungen führender Politiker wie Kurt Eisner (1919), Matthias Erzberger (1921) und Walter Rathenau (1922).
Wie waren in dieser Zeit die Verhältnisse in einzelnen Kommunen des Rheinlands? Als „rheinische“ Fallbeispiele dienen im Projekt „StadtRäume“ Leverkusen und Jülich, die im Folgenden vorgestellt wurden. Michael Gutbier (Erster Vorsitzender des Opladener Geschichtsvereins) warf einige Schlaglichter auf den Raum, der 1930 zur Stadt Leverkusen wurde, inklusive des 1975 eingemeindeten Opladens. Zunächst stellte Gutbier fest, dass die großen Belastungen der ersten „Weimarer“ Jahre auch vor Ort spürbar waren: Die Besatzung durch britische sowie auch neuseeländische Truppen dauerte bis 1926, es gab auch in Opladen und Wiesdorf kurzzeitig Arbeiter- und Soldatenräte und auch der Spanischen Grippe fielen hier bekannte Persönlichkeiten zum Opfer, wie etwa aus einem Nachruf auf den Konzertmeister Otto Hager hervorgeht. Während für Opladen die Stadtentwicklung eng mit der Verlegung des Kreissitzes des Landkreises Solingen nach hier 1914 und dem Wirken des Landrates Adolf Lucas verbunden ist, der durch seine lange Amtszeit von 1900 bis 1927 für Kontinuität sorgte, ist die Entwicklung Wiesdorfs vor allem durch Bayer geprägt. An der Spitze des Unternehmens stand in dieser Zeit Carl Duisberg, der 1912 den Sitz der Verwaltung von Elberfeld nach „Leverkusen“ verlegte. Bayer setzte entscheidende Impulse für das soziale und kulturelle Leben, etwa durch den Arbeiterwohnungsbau, die Gründung von Sport- und Kulturvereinen sowie den Bau des Erholungshauses. Auch bei der Vereinigung der Gemeinden Schlebusch, Steinbüchel und Rheindorf mit der Stadt Wiesdorf zur neuen Stadt Leverkusen hatte Bayer durch das klare Ablehnen einer Eingemeindung Wiesdorfs nach Köln seinen Einfluss geltend gemacht. Mit dem Bevölkerungswachstum gingen weitere Modernisierungen einher, wie der Bau eines neuen Rathauses in Wiesdorf an der Hauptstraße zwischen Köln und Düsseldorf – und damit etwas abseits des historischen Ortskerns. Mit der Stadtplanung des Architekten Wilhelm Fähler, der unter anderem das Carl-Duisberg-Gymnasium entwarf, fanden auch die Innovationen des Neuen Bauens in der Weimarer Republik vor Ort ihren Niederschlag.
Im Anschluss an die Ausführungen Gutbiers skizzierte Guido von Büren (Vorsitzender des Jülicher Geschichtsvereins) die Entwicklung Jülichs – eine Stadt, für die im Gegensatz zu Leverkusen deren vormodernen Strukturen als Festungsstadt charakteristisch sind. Für die 10.000-Einwohner-Stadt bedeutete das Ende des Ersten Weltkriegs insofern eine Zäsur, als dass die Zeit als Garnisonsstadt nun endete. Als eine Art Kompensation für den Verlust der Garnison wurde Jülich zum Standort eines Eisenbahn-Ausbesserungswerkes, was die Ansiedlung von Arbeitern nach sich zog, die das politische Spektrum der bis dahin überwiegend katholisch-konservativen Bevölkerung erweiterten. Die Zeit unter der Besatzung von französischen, später belgischen Soldaten wurde in Jülich zunächst als hart und ungerecht empfunden; es kam zu Spannungen, weil Arbeiter des Ausbesserungswerkes im Zuge von Zwangseinquartierungen ihre Wohnungen verlassen mussten und die Nichtbeachtung entsprechender Verordnungen streng geahndet wurde. Als besondere Schmach wurde der Einsatz von Kolonialtruppen angesehen. Die nie aufgeklärte Ermordung des Jülicher Verwaltungsangestellten Fritz Sassenscheidt im Januar 1920 verschärfte die Situation, da ein französischer Soldat der Tat beschuldigt wurde. Auf dem Höhepunkt der angespannten Situation wurde 1923 der Jülicher Geschichtsverein gegründet. Die Konzentration auf die als glorreich empfundene Vergangenheit kann dabei als Selbstvergewisserung und Gegenbewegung zu den Bedrängnissen der Zeit unter dem Besatzungsregime gedeutet werden. Danach normalisierte sich das Verhältnis zu den nun belgischen Besatzern, die allerdings noch bis 1929 in der Stadt blieben. Das Ende der Besatzung wurde mit einer Befreiungsfeier unter dem Motto „Freiheit Heimat Vaterland“ begangen, die in einem deutschnationalen Tenor abgehalten wurde und mit Festsitzung und Fackelumzug einer Siegesfeier gleichkam. Doch die ersehnte Freiheit endete bereits 1933. Das NS-Regime führte Jülich in die Katastrophe der vollständigen Zerstörung der Stadt im November 1944. Für das Projekt „StadtRäume“ ergibt sich daher bezogen auf Jülich die Schwierigkeit, dass keine baulichen Hinterlassenschaften aus der sogenannten „Zwischenkriegszeit“ existieren, was die Rekonstruktion erschwert.
Zuletzt erläuterte Prof. Hasberg in einem Ausblick die wesentlichen Intentionen des europäischen Projekts „StadtRäume / UrbanSpaces“. Das Jahr 1923 soll dabei eben nicht als „Krisenjahr“, sondern als „Wendejahr“ in einer Doppelausstellung in Leverkusen und Jülich mit Begleitprogramm und -publikation besonders in den Fokus rücken. Im Netzwerk mit den europäischen Partnern wird darüber hinaus unter anderem eine europäische Kulturgeschichte zwischen 1918 und 1939 als multilingualer und variabler Filmbaukasten für die historisch-politische Bildung erarbeitet.