Wiesdorf und die Gründung der Stadt Leverkusen

Das 90jährige Stadtjubiläum nimmt der OGV zum Anlass, die Hintergründe und Ursachen der Entstehung „Leverkusens“ genauer in den Blick zu nehmen. Daher stellen in diesem Jahr die Aufsätze zu 90 Jahren Leverkusen einen inhaltlichen Schwerpunkt der Rubrik „Historische Beiträge“ der im Juli erscheinenden Ausgabe des OGV-Kuriers dar. Im Vorgriff darauf veröffentlichen wir hier einen Auszug aus dem Beitrag von Marvin Halfmann, der sich mit der Rolle Wiesdorfs bei der Stadtgründung beschäftigt.

 

Am 1. April 2020 feierte die Stadt Leverkusen heimlich, still und leise ihren 90. „Geburtstag“ – genauer gesagt war es der 90. Jahrestag des Zusammenschlusses der Gemeinden Wiesdorf (dazu gehörten anno 1930 bereits Bürrig und Küppersteg), Rheindorf, Schlebusch und Steinbüchel zur neu gebildeten Stadt Leverkusen. Dieses Jubiläum nimmt der OGV zum Anlass, die Hintergründe und Ursachen der Entstehung „Leverkusens“ genauer in den Blick zu nehmen. Daher stellen in diesem Jahr die Aufsätze zu 90 Jahren Leverkusen einen inhaltlichen Schwerpunkt der Rubrik „Historische Beiträge“ der im Juli erscheinenden Ausgabe des OGV-Kuriers dar. Die Autoren Marvin Halfmann, Fabian Pompilio und Philipp Schaefer nähern sich der Stadtgründung 1930 aus Wiesdorfer, Opladener und Schlebuscher Perspektive.

Um schon ein wenig auf den neuen OGV-Kurier einerseits und die besondere Thematik des Stadtjubiläums andererseits neugierig zu machen veröffentlichen wir hier einen Auszug aus dem Beitrag von Marvin Halfmann, der sich mit der Rolle Wiesdorfs bei der Stadtgründung beschäftigt.

… Verwaltungstechnisch änderte sich zum 1. April 1920 (…) etwas für Wiesdorf. Mit der Ansiedlung der Bayer AG wuchs Wiesdorf zum dominierenden Ortsteil innerhalb der Bürgermeisterei Küppersteg heran: Äußeres Zeichen dafür war der Bau des neuen Rathauses in Wiesdorf, das die Gemeinde Wiesdorf aus eigenen Mitteln bezahlte und an die Bürgermeisterei Küppersteg vermietete. Das Gebäude wurde 1910 fertiggestellt und musste in den 1960er Jahren der Umgestaltung Wiesdorfs zur Stadtmitte Leverkusens weichen. Am besagten 1. April 1920 schlossen sich Bürrig und Wiesdorf zur Großgemeinde Wiesdorf zusammen. Die Fusion kann dabei als Folge des Ersten Weltkrieges gesehen werden: War Wiesdorf zuvor kaum auf Bürrig angewiesen, wo es wiederum vor dem Krieg auch Stimmen für ein Zusammengehen mit Opladen gab, so erfolgte im Zuge des leidbringenden Krieges ein Umdenken: Bürrig hatte durch den Krieg seine Industrie weitgehend verloren und war auf die Steuereinnahmen aus Wiesdorf mehr denn je angewiesen, während Wiesdorf das Bauland in Bürrig im Blick hatte. Innerhalb von nur wenigen Jahrzehnten nach der ersten Ansiedlung der chemischen Industrie in Wiesdorf wuchs die Einwohnerzahl in der Bürgermeisterei auf über 26.000 Einwohner. Kein Jahr nach dem Zusammenschluss von Bürrig und Wiesdorf wurden Wiesdorf am 12. Februar 1921 die Stadtrechte verliehen. Neun Jahre später, am 1. April 1930, schloss sich die Stadtgemeinde Wiesdorf mit den Landgemeinden Schlebusch, Steinbüchel und Rheindorf zur neuen Stadt Leverkusen zusammen. Dabei wurde bewusst auf den Namen der Arbeitersiedlung und Carl Leverkus zurückgegriffen, da er für die neugegründete Stadt eine der prägendsten Persönlichkeiten gewesen war.

Die Wiesdorfer Perspektive dieses „Gründungsaktes“ der Stadt Leverkusen lässt sich sehr gut dem Verwaltungsbericht der Stadt Wiesdorf von 1928/29 entnehmen. Aus dem nachfolgenden Zitat lassen sich die Hoffnungen und Sorgen des Wiesdorfer Bürgermeisters Heinrich Claes ableiten, aber es zeigt sich zudem auch die Rolle Carl Duisbergs als einflussreichen Fürsprecher eines Zusammenschlusses mit Rheindorf, Schlebusch und Steinbüchel:

Die große Umgemeindungsaktion für den Regierungsbezirk Düsseldorf reicht in ihren Ausläufern bis in unser Stadtgebiet, das zu dem neuen aus den Restkreisen Solingen-Land und Lennep zu bildenden rechtsrheinischen Südkreis [gemeint ist der spätere Rhein-Wupper-Kreis, bis 1931 Kreis Solingen-Lennep] gehören soll. Im Zusammenhang mit diesen Fragen hatte die Stadt Köln bei der Regierung in Düsseldorf Fühlung genommen, um eine Abrundung des Kölner Geländes auf dem rechten Rheinufer zu erreichen. Zur Prüfung der gesamten Pläne wurde der Kreis und dabei auch unsere Stadt am 16. Mai 1928 von einer Regierungskommission unter Leitung des Herrn Ministerialdirektors von Leyden aus dem Ministerium des Innern besichtigt. Bei der Besprechung der Kommission mit den Vertretern der Kreis- und Kommunalverwaltungen in Düsseldorf umriss der Bürgermeister die Stellung Wiesdorfs in der Umgemeindungsfrage mit der Forderung des Verbleibens der um Schlebusch, Steinbüchel und Rheindorf vergrößerten Stadt im neuen Südkreise. Die Anwesenheit des Herrn Beigeordneten Dr. Best, der die alten Ansprüche der Stadt Köln auf das Wiesdorfer Gebiet anmeldete, gab der Besprechung eine besondere Note. Herr Ministerialdirektor von Leyden hat bei der Besichtigungsfahrt auch Herrn Geheimrat Professor Dr. Duisberg einen Besuch abgestattet, um die Stellungnahme der I. G. Farbenindustrie AG als größten industriellen Unternehmens des Kreises kennen zu lernen. Herr Geheimrat Duisberg sprach sich gegen eine Eingemeindung Wiesdorfs nach Köln aus und hat damit auch den Standpunkt der Handelskammer Solingen und der übrigen industriellen Unternehmungen in Wiesdorf und Schlebusch wiedergegeben. Die Handelskammer hat am 20. November 1928 in einem einstimmig gefassten Beschluss sich u. a. dahin geäußert, die Vereinigung der Stadt Wiesdorf mit Schlebusch. Steinbüchel und Rheindorf sei aus wirtschaftlichen Gründen notwendig und müsse gleichzeitig mit der großen Umgemeindungsvorlage durch Gesetz geregelt werden.

Die „wirtschaftlichen Gründe“, die als Hauptmotiv für die Wiesdorfer Position, einen Zusammenschluss mit Schlebusch, Rheindorf und Steinbüchel zu forcieren, ins Feld geführt wurden, bestanden konkret im Mangel an Bauland: Der aufstrebende Industriestandort benötigte Grundstücke für seine expandierenden Unternehmen und für den Wohnungsbau und fasste dafür die überwiegend landwirtschaftlich genutzten Flächen der genannten Orte, die nördlich und östlich an Wiesdorf angrenzten ins Auge. Als zweites wesentliches Motiv kam das drohende Szenario einer Eingemeindung nach Köln hinzu, das auch von Duisberg ernst genommen wurde: Die höhere Gewerbesteuer und Köln und auch die Tatsache, dass Bayer in Köln nicht annähernd den gleichen Einfluss hätte wie als größter Arbeitgeber in einem „größeren“ Wiesdorf, bzw. der neu zu bildenden Stadt Leverkusen, waren gewichtige Gründe für die Ablehnung der Kölner Eingemeindungspläne. Duisberg brachte seine Verbundenheit zu Wiesdorf bereits 1923 klar zum Ausdruck, als er anlässlich der Verleihung der Ehrenbürgerwürde der Stadt Wiesdorf in seiner Dankesrede sagte:

Ich gestehe gern zu, ich bin von Anfang an der beste und treueste Freund von Wiesdorf gewesen und habe bei fast jedem Häuserentwurf, bei jeder Verschönerung Patenschaft gestanden […]“.

Nachdem die Eingemeindungsverhandlungen mit Rheindorf, Steinbüchel und Schlebusch zu einem erfolgreichen Ende kamen – obwohl besonders Schlebusch zwischenzeitlich einen Kurs Richtung Eingemeindung nach Köln verfolgte – verfassten die Vorsteher der betroffenen vier Gemeinden Geleitworte zur Gründung Leverkusens am 1. April 1930, in denen sie den Prozess der Neugliederung resümierten. Heinrich Claes, der 1930 erster Bürgermeister der neuen Stadt Leverkusen wurde, schlug in seinem Geleitwort den Bogen zum Zusammenschluss von Wiesdorf und Bürrig am 1. April 1920 und kommentierte die Gründung Leverkusens aus Wiesdorfer Perspektive folgendermaßen:

Vor zehn Jahren, am 1. April 1920, haben sich die damaligen Landgemeinden Wiesdorf und Bürrig, die seit 1860 einen Bürgermeistereiverband bildeten, zur Gemeinde Wiesdorf mit rund 27 000 Einwohnern vereinigt. Die kraftvolle industrielle Entwicklung hatte den Anstoß zu einer Steigerung des kommunalen Selbstbewusstseins gegeben. Der nächste folgerichtige Schritt war der Antrag auf Verleihung der Städteordnung, dem durch Verfügung des Preußischen Staatsministeriums vom 12. Februar 1921 stattgegeben wurde […]. Bürrig hat den Verlust seines kommunalen Eigenlebens niemals zu bedauern gehabt. Sein umfassender Aufstieg fällt jedem in die Augen. In Bürrig ist fast der Schwerpunkt der gesamten Wiesdorfer Bautätigkeit der Nachkriegszeit gewesen […]. Durch die Anlage der Kolonie Neuenhof ist ein völlig neuer Stadtteil geschaffen worden, der sich späterhin zu einer Verbindung von Bürrig mit Manfort auswachsen und damit das Stadtbild im Nordosten abrunden wird.

Nunmehr steht Wiesdorf abermals am Vorabend eines neuen Abschnitts seiner Entwicklungsgeschichte. Wiederum hat das Preußische Staatsministerium einer bedeutsamen Erweiterung des Stadtgebietes zugestimmt […]. Der Zusammenschluss mit den drei Nachbargemeinden war kein ehrgeiziges Machtstreben Wiesdorfs, sondern ein dringendes Gebot der Stunde […]. Nicht mit rauschenden Festlichkeiten wollen wir die Geburtsstunde unseres gemeinsamen Lebensweges feiern. Der Anfang sei die soziale Tat. Das Patengeschenk der Stadt Wiesdorf ist ein namhafter Geldbetrag an den Wohlfahrtsausschuss.