Geschichte am Kamin: „Doch keine ungeliebte Zwangsehe?“ Historiker Hitze über die Gründung Nordrhein-Westfalens 1946
Nordrhein-Westfalen – das ist doch ein Kunstprodukt, dass nur wegen der britischen Besatzung geschaffen worden ist! Oder etwa nicht?
Auf Einladung von OGV und Volkshochschule sprach der Historiker und Leiter der Landeszentrale für politische Bildung Nordrhein-Westfalen Guido Hitze im Leverkusener Forum über die Gründung des Landes Nordrhein-Westfalen. In der historischen Forschung wurde die Zusammenführung der preußischen Provinzen Rheinland und Westfalen im Jahr 1946 durch die britischen Besatzungsmächte lange Zeit allein als willkürliches Produkt der Nachkriegszeit betrachtet. Hitze zeigte in seinem Vortrag, dass der Mythos des „ungeliebten Kindes NRW“ und der „Zwangsehe“ so aber nicht stimmt…
„Wenn die Briten nicht gekommen wären und die Deutschen nach 1945 frei hätten entscheiden können, würden sie heute noch diskutieren“, sagte Hitze. Damit betonte der Historiker, dass die Zusammenführung der beiden Provinzen keineswegs eine voreilig getroffene Entscheidung der Besatzungsmächte war. Vielmehr lassen sich die Anfänge einer Vereinigungsdebatte bis in die Weimarer Republik zurückverfolgen.
Der Historiker zeigte, wie mit der Verabschiedung der Weimarer Reichsverfassung 1919 zunehmend über eine territoriale Neugliederung der Länder diskutiert wurde. Einer der ersten Entwürfe stammt von dem Staatsrechtler Hugo Preuß, der anstelle der preußischen Provinzen eine Reihe neuer schaffen wollte. Weitere Entwürfe wie die von Hans Baumann 1922 folgten dem Ansatz, die Länder in Wirtschaftsgebiete aufzuteilen. Im Westen des Entwurfs hätte sich dann ein Gebiet befunden, dass er als „Rhein-Westfalen“ mit der Hauptstadt Köln betitelte und das die Landgrenzen des heutigen Nordrhein-Westfalens umfasste. Als Grund für die administrative Zusammenführung der beiden von ihm als „Kraftzentren“ bezeichneten Gebiete Rheinland und Westfalen nannte Baumann die Bedeutung des Ruhrgebiets als Industrie- und Produktionszentrum sowie der Rheinischen Braunkohle für die Energieversorgung.
Hitze führte aus, dass solche wirtschaftlichen Überlegungen für Entwürfe und Debatten der frühen Zwischenkriegszeit sehr wichtig waren. So setzten sich Vertreter der Ruhrindustrie oder auch damalige Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenauer für einen neuen „Weststaat“ ein. Für Hitze beweisen die zahlreichen Entwürfe während der Weimarer Republik, dass die Gründung Nordrhein-Westfalens kein zufälliges Produkt der Besatzungsmächte nach 1945 war, sondern an frühere Entwürfe und Pläne anknüpfte. Erst nach der Machtübernahme der NSDAP 1933 und der Gleichschaltung der Länder brach diese Debatte ab.
Als sich der Krieg 1944 dem Ende näherte, entwarf der US-Amerikaner James K. Pollock ein Konzept für die Aufteilung der künftigen Besatzungszonen der Siegermächte. Dessen Plan sah schon zu diesem Zeitpunkt eine Trennung der preußischen Rheinprovinz entlang der heutigen Südgrenze NRWs vor.
Ein Indiz für den Ursprung der Vereinigung beider Provinzen Rheinland und Westfalen in Plänen der Zwischenkriegszeit ist für Hitze eine Weihnachtskarte der britischen Streitkräfte aus dem Jahr 1945. Die Karte zeigt ein Besatzungsgebiet, dass dem heutigen Nordrhein-Westfalen entspricht. Das britische Militär hatte dem Historiker zufolge exakte Vorstellungen zu den Grenzen der Besatzungszonen. Vom Krieg unbelastete Politiker und Oberbürgermeister wie Hermann Pünder, Karl Zuhorn und der Oberpräsident der Nordrhein-Provinz Robert Lehr berieten mit Konzepten und Ideen aus der Weimarer Republik die britische Besatzung in der frühen Nachkriegszeit. Die vom Krieg geschwächte Region hatte bei einer Vereinigung das größte Potential, sich zu erholen, sodass im Jahr 1946 die Entscheidung einer Vereinigung der beiden Provinzen durch die britische Besatzungsmacht getroffen wurde.
Für den Historiker Guido Hitze war die Gründung des Landes Nordrhein-Westfalen demzufolge weder ein willkürliches Produkt der Nachkriegszeit noch eine bloße „Zwangsvereinigung“ beider Provinzen. Der Entschluss der Briten war für Hitze ein Produkt der Vernunft und auch das Ergebnis jahrzehntelanger Debatten, die ihren Anfang im Jahr 1919 mit der Weimarer Republik nahmen. Mit seinem Vortrag zur Gründung Nordrhein-Westfalens ermöglichte er einen vielschichtigen und neuen Blick auf die Ursprünge des Landes.